Ich bin doch nicht psychisch krank … oder?
- Claudia
- 26. Juni
- 4 Min. Lesezeit
Warum Systemische Beratung wirkt, bevor es so weit kommt

„Ich bin doch nicht krank – ist Systemische Beratung dann überhaupt etwas für mich?“ Diese Frage begegnet vielen, die systemisch arbeiten, immer wieder. Dahinter steckt oft ein Missverständnis: Wer Beratung in Anspruch nimmt, muss ein Problem haben, das groß, gravierend oder gar behandlungsbedürftig ist. Und wenn es das (noch) nicht ist, scheint Hilfe entweder übertrieben – oder nicht berechtigt. Oder es ist schlicht die Angst vor Stigmatisierung: „Ich bin doch nicht psychisch krank…“, also die Sorge, dass der Schritt zur Beratung gleichgesetzt wird mit einem Mangel, einer Schwäche oder gar einem Störungsbild.
Dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Systemische Beratung richtet sich gerade an Menschen, die spüren, dass etwas nicht mehr stimmig ist – ohne dass sie dafür gleich eine Diagnose brauchen. Es geht nicht um Krankheit, sondern um Lebenssituationen, die sich festgefahren haben. Um Muster, die sich wiederholen. Um innere oder äußere Konflikte, die zermürben. Und um die Frage, wie Veränderung möglich wird, bevor Belastung chronisch wird.
Beratung statt Diagnose: Was Systemisches Arbeiten ausmacht
Systemisches Arbeiten bedeutet, den Blick zu weiten. Nicht nur auf das, was im Inneren schwerfällt – sondern auch auf das, was im Umfeld mitwirkt: Beziehungen, Rollen, Erwartungen, Geschichten. Es geht nicht um Schuld oder penible Ursachenforschung, sondern um Verstehen, Entwirren, Neusortieren. Und darum, konkrete Schritte zu entwickeln, die den Alltag wieder gangbarer machen.
Genau an diesem Punkt setzt Systemische Beratung an. Nicht erst, wenn etwas nicht mehr geht – sondern davor. Bevor sich Überforderung verfestigt. Bevor Gedanken sich im Kreis drehen. Bevor zwischenmenschliche Spannungen zu dauerhaften Konflikten werden. Denn nicht jede Belastung ist eine psychische Erkrankung – aber viele psychische Erkrankungen beginnen mit jahrelanger, nicht beachteter Belastung.

Wie in der Systemischen Gesundheitsberatung geht es auch hier um das, was wir präventiv tun können: frühzeitig hinschauen, verstehen, verändern – bevor etwas chronisch wird. Systemische Beratung bietet genau dafür einen Raum. Sie ist kein therapeutisches Verfahren, aber sie wirkt – weil sie Muster sichtbar macht, Beziehungen in den Blick nimmt und Ressourcen mobilisiert, die im Alltagsstress oft verloren gehen.
Zwischen Coaching, Therapie und Systemischer Beratung
Dass der systemische Ansatz wirksam ist, zeigen inzwischen zahlreiche Studien – zumindest für die Systemische Therapie, die seit 2020 für Erwachsene und seit 2024 auch für Kinder und Jugendliche zu den anerkannten Psychotherapieverfahren gehört. Die gesetzliche Krankenversicherung übernimmt die Kosten, wenn eine psychische Störung vorliegt und die Behandlung durch approbierte Fachkräfte erfolgt. Grundlage dieser Entscheidung war eine fundierte Studienlage, die die Wirksamkeit bei unterschiedlichsten Störungsbildern nachgewiesen hat.
Systemische Beratung ist kein Teil dieses medizinischen Systems – und will es auch nicht sein. Aber sie baut auf denselben Denkprinzipien auf: auf der Idee, dass Probleme nicht im Einzelnen „sitzen“, sondern im Zusammenspiel. Dass es nicht darum geht, Symptome wegzumachen – sondern zu verstehen, was sie in einem bestimmten Kontext verständlich macht. Und dass Veränderung oft schon dann möglich wird, wenn man die Perspektive wechselt.
Und was ist mit Coaching? Auch hier gibt es Überschneidungen – vor allem, wenn es um Zielklärung, Motivation oder eher um berufliche Themen geht. Doch Coaching bleibt meist stärker lösungs- und leistungsorientiert, während Systemische Beratung auch innere Dynamiken, biografische Prägungen und familiäre Kontexte einbezieht.
Ein Vorteil der Systemischen Beratung liegt dabei genau in ihrem präventiven Ansatz. Es braucht keine Diagnose, keinen Leidensdruck im medizinischen Sinne, keine Wartezeit auf einen Therapieplatz. Es reicht, dass du merkst: So wie es gerade ist, stimmt es für mich nicht mehr. Und dieser Moment verdient es, ernst genommen zu werden – nicht abgewartet, bis er sich auswächst.
Systemische Beratung in der Praxis
Wie Systemische Beratung dabei unterstützen kann, zeigen drei unterschiedliche Geschichten aus meiner Praxis. Sie stehen exemplarisch für viele andere – und vielleicht auch ein Stück weit für das, was dich gerade bewegt.

Ein 15-jähriger Junge zieht sich immer mehr zurück. Er meidet die Schule, redet wenig, sitzt oft stundenlang am Handy. Seine Eltern sind beunruhigt, wissen aber nicht, ob sie überreagieren. Es liegt keine klare Diagnose vor, kein erkennbares Trauma. Aber der Alltag kippt. In der Beratung arbeiten wir an den unausgesprochenen Erwartungen, an Rollenzuschreibungen in der Familie, an der Frage, wie viel Autonomie der Junge braucht – und wo er Halt sucht. Nach wenigen Wochen beginnt er wieder regelmäßig zur Schule zu gehen. Nicht, weil jemand Druck macht, sondern weil er sich gesehen fühlt – und weil auch seine Eltern anfangen, ihre eigene Unsicherheit als Teil des Problems (und der Lösung) zu verstehen.
Eine Familie mit drei Kindern kommt erschöpft zur Beratung. Beide Eltern arbeiten, die Tage sind voll, die Nerven dünn. Immer wieder dieselben Konflikte um Schlafenszeiten, Tischregeln, Aufmerksamkeit. Nichts davon dramatisch – aber alles zermürbend. Im Gespräch wird deutlich, wie stark beide sich bemühen, allen gerecht zu werden – und wie wenig Raum für die eigene Beziehung bleibt. Wir sortieren Zuständigkeiten, hinterfragen alte Erziehungsmuster, bringen wieder Struktur in den Alltag. Nach wenigen Sitzungen sagt die Mutter: „Ich glaube, wir haben das erste Mal seit Monaten wieder wirklich miteinander gesprochen – nicht nur geschrien oder geschwiegen.“
Eine Frau Mitte vierzig fühlt sich innerlich blockiert. Beruflich funktioniert sie – aber innerlich nagt der Zweifel. Immer wieder dieselben Muster, dieselben inneren Stimmen, dieselbe Selbstkritik. Eine Krankheit liegt nicht vor. Aber der Wunsch nach Veränderung ist deutlich. In der Beratung nähern wir uns ihrem biografischen Hintergrund, schauen auf Prägungen und wiederkehrende Beziehungserfahrungen. Es entsteht ein neues Selbstverständnis – eines, das nicht durch Leistung definiert ist. Am Ende steht kein radikaler Bruch, sondern eine stille, nachhaltige Umorientierung: Sie beginnt, sich neu abzugrenzen, übernimmt Verantwortung für sich – und fühlt sich erstmals seit Langem wieder handlungsfähig.
Systemische Beratung ist kein Wundermittel. Aber sie kann etwas Entscheidendes leisten: Sie macht sichtbar, wo etwas zu eng geworden ist – und zeigt Wege auf, es wieder zu weiten. Nicht als Therapie, nicht als Reparatur. Sondern als Möglichkeit, die eigene Geschichte zu verstehen – und neu zu schreiben, bevor sie krank macht.
Was also, wenn du dir Beratung nicht erst dann erlaubst, wenn alles zusammenbricht – sondern genau dann, wenn es beginnt, nicht mehr zu passen?
🤍 Wenn du Gedanken, Fragen oder eigene Erfahrungen zum Thema hast – schreib mir gern. Ich freue mich über den Austausch.
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